Ärztin und Bettlerin

10 Oktober 2020
In ihrer sechsten Mission musste sich dr. Réka Fodor hauptsächlich nicht auf die Heilung konzentrieren, sondern darauf, wie sie von den Spenden aus Ungarn die Menschen vor dem Hungertod retten könnte.

- Sie sind für eine zweiwöchige Mission nach Nigeria gereist, es wurden sechs Monate daraus. Wir leben in Zeiten, wo solche Fragen zählen: Wie geht es Ihnen?

- Ich versuche gerade, mich wieder in mein hiesiges Leben einzugewöhnen. Die Heimreise aus Nigeria dauerte drei Tage, ich habe kaum geschlafen. Ich habe mein Flugticket nach Budapest siebenmal verlängert. Als wir aufgebrochen sind, wussten wir, dass es in Europa wegen der Epidemie Probleme gibt. Einige Stunden nachdem mein Flugzeug in Port Hourcourt gelandet war, wurden wegen einiger Coronavirus-Erkrankten im ganzen Land alle Flughäfen gesperrt. Dann wurden im ganzen Land strikte Einschränkungen eingeführt, was zu einer furchtbaren, humanitären Katastrophensituation führte. Ich freue mich, dass ich wieder bei meiner Familie sein kann. Ich bin auch Familienmutter, meine Kinder haben stark unter der letzten Periode gelitten, die wir voneinander getrennt verbringen mussten.

- Vor Ostern haben sie die Ungarn mit einer dramatisch gestimmten Nachricht um Hilfe gebeten. Metropolit und Erzbischof Okeke von Onitsha bedankte sich für die Unterstützung aus Ungarn in seiner Nachricht für das Online Vortreffen zum ursprünglichen Zeitpunkt des verschobenen Internationalen Eucharistischen Kongresses. Wie konnten wir helfen?

- Als Gründer der Afréka-Striftung war ich bis jetzt an der Organisation von 16 medizinischen Missionen beteiligt. Unter anderem sind auch zwei international anerkannten Neurochirurgen, Oberarzt dr. András Csókay und Professor dr. György Szeifert Mitglieder der Mission. Früher haben wir auch schon einen Gastroenterologen, Physiotherapeuten und eine Operationsschwester nach Onitsha mitgenommen. Ich war schon sechsmal in der Region. In der Medizin sind wir gut, aber jetzt war etwas ganz anderes notwendig, humanitäre Hilfe. Der Zusammenhalt der ungarischen Spender war unglaublich: es schickten Bischöfe, Priester, Pfarreien, Gläubige, Gebetsgruppen und Nonnenkongregationen Geld, damit wir helfen können. Selbst auszusprechen fällt es schwer, ohne gerührt zu werden: dass wir innerhalb von sechs Monaten 92 Millionen HUF gesammelt haben. Das ist außerordentlich, denn bis jetzt, wenn wir während eines ähnlichen Zeitraumes nur 3 Millionen zusammenbekommen haben, war ich schon stolz auf mich. Hungary Helps schickte über die Geldspende hinaus einen Krankenwagen, so haben sie unsere Arbeit unterstützt.

- Was bedeutete in diesem Fall die humanitäre Hilfe?

- Das Coronavirus ist ein wahres Problem, aber seine Auswirkungen in Nigeria sind wenig zu spüren im Vergleich dazu, was für eine Verheerung die Malaria und vor allem die Hungersnot verursachen. Schlimmer noch, dass die wegen der Pandemie eingeführten Einschränkungsmaßnahmen die sowieso schon katastrophale Lage weiter verschlimmert haben. Die Märkte wurden für sechs Wochen geschlossen, die für viele Millionen von Menschen die einzige Einkunftsquelle bedeuten. Im Land von beinahe 200 Millionen Einwohnern haben 150 Millionen Menschen nicht mal für einen Tag ausreichende Vorräte. Wegen COVID wurden die Menschen in ihre Häuser eingeschlossen. Unter dem Aufruf der Hygiene und der sozialen Distanzierung wurden sie in ein Umfeld gezwungen, wo sie in fensterlosen Zimmern ohne Strom und Wasser im Durchschnitt zu 15 wohnen. Sie haben eine humanitäre Katastrophe ausgelöst, in der der Hunger von riesigem Ausmaß ist. In dieser Situation ist ein neues „Virus“ aufgetaucht, der Hunger. Während ich da war, hatten wir aus den sechs Monaten in fünf keine Tests, und nachdem wir welche bekommen haben, hat es sich herausgestellt, dass sich viele angesteckt haben. Aber das ist es nicht, was die größte Bedrohung darstellt, und auch nicht, dass der Malaria oder AIDS mehrere Millionen zum Opfer fallen. Das dringendste Problem ist es, noch einmal, dass auch jetzt in diesem Augenblick Menschen sterben, weil sie nichts zu essen haben.

- Wenn wir das Ausmaß des Problems sehen, wozu haben diese 92 Millionen HUF gereicht? Wie oft am Tag bricht einem das Herz, wenn man bei einer Essensverteilung sagen muss, dass die Spenden ausgegangen sind und wir dir und deiner Familie jetzt nicht helfen können?

- Das ist eine schwere Sache. Es ist vorgekommen, dass wir neben der Stadt Onitsha in einem Dorf von 800 Einwohnern nur 300 Familien Spenden austeilen konnten und 700 haben sich an der Pfarrei präsentiert. Der Reis ist ausgegangen und wir haben den Kartoffeln ähnliche, aber wesentlich größere Jamswurzeln verteilt. Wir haben entschlossen, eine Jamswurzel weniger pro Familie auszuteilen, damit mehrere davon bekommen können, und haben dazu noch Trockenteigwaren gegeben. Die Afréka Stiftung kennen sie schon und sie akzeptieren sie, wir haben gut funktionierende Kanäle, um den Spenden an ihr Ziel zu verhelfen. Meine Erfahrung ist es, dass auch die wohlhabenderen nigerianischen Menschen den Benachteiligten Spenden Schicken.

- Habe ich es gut verstanden? Ein Dorf von 800 Tausend Einwohnern?

- Ja. Auch die Stadt Onitsha ist bis heute auf 8 Millionen Einwohner geschwollen, als Folge der inneren Migration. Aus dem nördlichen Teil des Landes ziehen vor allem die Christen vor den Grausamkeiten der extremistischen islamischen Terrororganisation, Boko Haram, nach Süden. Es ist ein riesiges Gedränge, die Arbeitslosigkeit und die Armut sind sehr groß. Bis heute hat sich eine Praxis entwickelt – wenn wir es schaffen, 2-3 Millionen HUF zu sammeln, sage ich Erzbischof Okeke Bescheid, der 185 Pfarreien und 518 Priester in der Diözese hat. Die Menschen haben einen tiefen und lebendigen Glauben, alle besuchen die heilige Messe. Die Priester wissen schon aufgrund der persönlichen Bekanntschaften ganz genau, welche Familien in Not am meisten auf die Spenden angewiesen sind. Wenn wir etwas Geld gesammelt haben, kaufte die Erzdiözese Reis und Trockenteigwaren. Es kam vor, dass wir mit Erzbischof Okeke und seinem Unterkanzler, Pater Basil, die Säcke verteilt haben. Auch da sind wir natürlich auf große Schwierigkeiten gestoßen, die Vorräte sind ausgegangen, davor stockte der Transport. Es kam vor, dass wir Polizisten bestechen mussten, damit sie den Transport über die Straßensperren passieren ließen. Es war problematisch, dass, während wir im Frühling noch für 7 500 HUF einen Sack Reis kaufen konnten, der Preis aufgrund der Epidemie und des Vorratsmangels bis auf 20 000 HUF gestiegen ist. Von den wohlhabenderen Menschen gab es welche, die die Situation ausgenutzt haben, die Vorräte aufgekauft und mit erheblichem Aufpreis, mit Wucher weitergegeben haben. Auch für das Krankenhauspersonal haben wir eine Verteilung organisiert, auch sie hätten den Reis nicht zu den erwähnten Preisen kaufen können, denn der monatliche Gehalt einer Assistenzkrankenschwester entspricht 18 000 HUF.

- Sie lächeln ununterbrochen. Auf die Frage wie geht es Ihnen antworten Sie: mir geht es immer gut. Gab es aber in dem dort verbrachten halben Jahr Tiefpunkte, von der Familie entfernt, lange, schlaflose Nächte, die einen umhüllt haben?

- Wegen meiner Familie und meiner Kinder gab es schwierige Perioden. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, aber neben den schwierigen Momenten und Ereignissen gab es auch viel Gutes, was mich über diese schwierigen Phasen hinweggebracht hat. Ich war mehrmals am Boden. Ich habe Nächte durchschluchzt und konnte nicht schlafen. Ich habe mich mit Gott gestritten. Ich sah den Hunger, den Tod und die Elend. Eines Tages war es der letzte Tropfen im Fass, als ich an einer Baustelle ein kleines, 10-11 Jahre altes Kind ohne jegliche Sicherung am Gestell das Gebäude putzen gesehen habe. Ich bin ausgerastet, wollte etwas machen, denn bei uns ist Kinderarbeit eine Straftat. Die Einwohner haben mich beruhigt, dass ich mich freuen sollte, dass sie einen Job haben. Es kann sein, dass diese kleinen Kinder ihre ganze Familie nähren. Die Lokalen sagen: „Schau darauf, ob sie es mit Freude oder aus Zwang tun.“ Ich wollte nach Hause kommen, habe angefangen, meine Heimreise zu organisieren, aber ich konnte nicht kommen. In dieser Situation habe ich, wie ein göttliches Zeichen, eine SMS bekommen, dass ein Spender 10 Millionen HUF geschickt hat. Daraus konnten wir 7000 Familien Reis kaufen. Ich wurde von viel Gebet und Hilfsbereitschaft umgeben.

- Was für ein Zukunftsbild haben die dortigen Menschen?

- Die christliche Gemeinschaft, die ich kennengelernt habe, besteht aus äußerst fleißigen Menschen. Sie interessieren sich für die Wissenschaft, sie wollen lernen und sich durchbringen, aber für die Bildung muss man zahlen. Viele bekommen die Chance, im Ausland, mit einem Stipendium zu lernen. In Nigeria gibt es keine Sozialversicherung, alles ist kostenpflichtig. Sie nehmen den Preis der Behandlung auch von den Ärmsten ab, viele gehen selbst dann nicht zum Arzt, wenn es zu spät ist. An ein Krankenhaus denken sie nur, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gibt: wenn sie schon beim Weisen waren, Tee und Absude ausprobiert haben. Von den Spenden aus Ungarn habe ich mehrere Geräte gekauft: Röntgen, EKG, so können wir auch von hier, von zuhause aus, die dortige Arbeit über Telemedizin unterstützen. Mehrere der Priester von Erzbischof Okeke haben in Europa und den USA studiert, sie sind weltkluge Menschen, die dennoch nach Nigeria zurückgekehrt sind, um zu helfen. Ich habe mich einmal mit Pater Izunna, dem Leiter des St. Charles Borromeo Hospitals darüber unterhalten, als wir einmal im Stau standen. Wie er es damals erlebt hat, nach sechs Jahren in Belgien, wieder heimzukehren. Er lächelte und sagte: „Ich konnte es kaum erwarten, zurückzukommen, ich liebe Nigeria“ – und er sagt es so, dass dabei Boko Haram an immer mehreren Orten des Landes auf die Christen jagt. Sie können tatsächlich zu jeder Zeit zu Märtyrern werden. In Nigeria spürst du Himmel und Hölle wirklich zur gleichen Zeit. Während ich dir über die dreistündige Messe am Sonntag rede, wo es um die Freude und Lobpreisung geht, gibt es im Hintergrund den verheerenden Hungertod. Die beiden sind gleichzeitig präsent, aber es gibt nie so viel Klage, wie sie es hierzulande gibt.

- Sie verwenden oft den Ausdruck lebendiger Glaube, wenn Sie über die dortige Gemeinschaft reden.

Der Glaube des dortigen Menschen äußert sich nicht durch die Sprache, sondern durch die Taten. Was meine ich damit? An einer Beerdigung einer alten Dame, die ein schönes und langes Leben hatte, und sogar zwei ihrer Söhne Priester wurden, haben 150 Priester konzelebriert. Am Ende der Zeremonie, an der niemand in schwarzer Kleidung erschienen ist, hat sich die riesige Menge mit `Alleluja verabschiedet, weil jeder sicher war, dass diese Frau in den Himmel ging. Das bedeutet nicht, dass sie unempfindlich sind, oder nicht durch den Verlust erschüttert wären, nicht weinen würden, aber sie erleben ihren Glauben mit Freude. Ich habe kaum einen Priester getroffen, der sich beklagt hätte. Dabei können sie jederzeit zu Märtyrern werden, denn Boko Haram jagt auf sie.

- Die Angst beherrscht also demnach nicht den Alltag…

- Wenn es keine solche außerordentliche Situation gibt, verteile ich an den ärmsten Orten nicht Reis, sondern Medikamente gegen Malaria und Typhus. Ich arbeite vor allem draußen und nicht im Krankenhaus. Es ist viel effizienter, wenn uns außerhalb des Krankenhauses nicht Leibwächter, sondern Priester schützen, wenn wir unser Mobillabor auslagern und sogar vorübergehende Zeltkrankenhäuser aufstellen. Ich weiß, dass sie uns auch im ihr Leben verteidigen würden. Und das tun sie mit einem Humor und Opferbereitschaft, die sich nur schwer in Worte fassen ließen. Es ist für sie im Leben drin, dass sie jeden Moment sterben könnten, weil sie erschossen werden, weil sie Christen sind, aber vor ihrem Tod werden sie noch Lächeln und lobpreisen. Wenn ich diese Erlebnisse durchdenke, erkenne ich, dass ich viel mehr von ihnen bekomme, als ich in der Lage bin, ihnen zu geben. Ich lerne von ihnen, mein Glaube hat sich nur während der sechs Missionen in Afrika stärker entwickelt als je zuvor. Manchmal ist es in dieser Hinsicht schwieriger hier, zuhause.

- Sie sind vor ein paar Tagen zurückgekommen, aber ich denke, sie sind voller Pläne.

- Die Welt ist schwer zu planen geworden, jetzt können wir nicht zurück. Wir haben unsere Kanäle errichtet; wenn es eine Spende kommt, können wir sie zu den Benachteiligten schicken. Ich habe meine Mission dem lieben Gott angeboten, der mir geholfen hat, einige Stunden vor der Sperre des Flughafens nach Nigeria zu kommen, und dann heimzukehren. Meine Aufgabe ist es jetzt, mit meiner Familie zu sein und hier, zuhause, ungarische Patienten zu heilen. Ich hoffe, dass wir zu unserer ursprünglichen Mission, zur Heilung, zurückkehren können. Jetzt müssen wir aber noch die humanitäre Krise bewältigen. Ich habe mir während des letzten halben Jahres mehrmals die Frage gestellt, als ich Reissäcke verteilt habe: Was bin ich, Ärztin oder Bettlerin? Jetzt gerade Bettlerin.

Wenn Sie die AFRÉKA Internationale Humanitäre Stiftung unterstützen möchten, können Sie dies unter folgender Kontonummer tun.

Kontonummer: Afréka Alapítvány 10101346-27099400-01004002 IBAN: HU66 SWIFT/BIC: BUDAHUHB

Quelle: gondola

Foto: Marcsi Ambrus