Weihnachten in Gefangenschaft

30 Dezember 2020
Csaba Szabó, Generaldirektor des Ungarischen Staatsarchivs erzählte über die vielen Weihnachten von József Mindszenty in Gefangenschaft und auch über den „Meistertrick“ von Kádár.

An Weihnachten dieses Jahr geht es für viele von uns um Distanzierung und Einschränkungen. Mit dem Generaldirektor des Ungarischen Staatsarchivs, Csaba Szabó, haben wir uns über die vielen Weihnachten in Gefangenschaft von József Mindszenty unterhalten, und auch darüber, warum wohl die Waffen im ersten Weltkrieg an der Front nur ein einziges Mal an Weihnachten schwiegen.

- Als Historiker, als Generaldirektor des Ungarischen Staatsarchivs, wie weit können Sie sich während der Feiertage von Ihrer Arbeit, von der Aufschließung der Vergangenheit entfernen? In diesem seltsamen Jahr bereiten wir uns auf ein seltsames Weihnachtsfest vor, bei vielen Familien wird die Nostalgie im Mittelpunkt stehen.

- Von klein auf erlebe ich in der Adventszeit das Wunder der Erwartung, dann das von Weihnachten. Das hat sich bis zu meinem 54. Lebensjahr nicht verändert. Die Aufregung der Erwartung der Geschenke ist ziemlich schnell von meinem Leben verschwunden; ich will nicht behaupten, dass ich mich nicht über Überraschungen freue, aber das ist nicht, was für mich zählt, sondern die Zeit mit der Familie. Mein Vater ist jung, mit 54 Jahren gestorben. Deswegen erinnere ich mich besonders gerne daran, als am zweiten Weihnachtstag die ganze Familie gemeinsam zur heiligen Messe gegangen ist, und wir danach ins Kaffeehaus eingekehrt sind für ein Kastanienpüree. Diese innige Stimmung ist es, die ich bis zum heutigen Tage erwarte, die Zeit der Achtung aufeinander. Das scheint alles idyllisch zu sein, dabei fällt mir ein, dass nicht jeder die Möglichkeit hatte, so die Geburt Christi zu feiern. Mir fällt József Mindszenty, Bischof von Veszprém (Wesprim) ein, der zusammen mit 26 Priestern und Priesterseminaristen von den Pfeilkreuzlern festgenommen wurde und in das Gefängnis von Sopronkőhida (Steinambrückl) gesperrt wurde, auch Weihnachten haben sie dort verbracht. In seinen Memoiren verewigte er die Weihnachten von 1944 als die unheimlichsten seines Lebens. Er verglich die chaotischen Zustände mit der Schlacht bei Mohács. Der Großteil des Landes ist geflohen, gestorben, oder schaute in Gefangenschaft zu, wie die Belagerer und die Befreiungsarmee zugleich das ungarische Volk ausplünderten und folterten.

Das verfolgte Volk, der verfolgte Jesus

- Es ist schwer zu entscheiden, was eine größere Strafe ist – in der Heimat dem Verfall der eigenen Nation und der Kirche zuzuschauen oder wenn man das in einem freien Land, aber von zuhause entfernt tun muss.

- Mindszenty schrieb auch in 1946 darüber, dass das Weihnachtsfest sehr schwer ist. In seinen Erinnerungen zog er eine Parallele zwischen der Situation des Christkindes, der nicht aufgenommen wurde, der unter Tieren zur Welt kommen musste, und den Völkergruppen – Schwaben, Slowaken – die in 1946 aus Ungarn ausgesiedelt wurden. Auch der Advent von 1948 verging im Leben von Mindszenty ähnlich. Er bereitete sich nicht auf das Wunder vor, sondern darauf, verhaftet zu werden. Am 16. Dezember hielt er die letzte Sitzung der Bischofskonferenz. Hier sagte er, dass was ihm gegenüber als Anschuldigung vorgebracht werden wird, unwahr, falsch ist. Am 23. Dezember verwüsteten sie den Primaspalast, damit die ÁVO (Staatsschutzabteilung der Ungarischen Staatspolizei) Beweise für seine Verhaftung finden kann. Mindszenty ließ seine Mutter, mit der sie in äußerst enger Beziehung standen, zu sich rufen, er wollte, dass sie neben ihm ist, als er in Haft genommen wird. Dies ist am zweiten Weihnachtstag passiert. Im Leben des unglücklichen Kardinals kam es zwischen 1949-1954 zu weiteren, im Gefängnis der Conti-Straße in Haft verbrachten Weihnachten. 1956 wurde er befreit, aber die Weihnachten dieses Jahres verbrachte er schon an der Botschaft der USA. 15 Jahre lang musste er dortbleiben. Er benutzte seinen Schreibtisch als Altar für seine Messen.

- Die Zeit hinter Gittern und unter Einschränkungen im Leben Mindszentys lässt sich in Jahrzehnten messen. Wenn wir uns jetzt anschauen, fällt es uns schon schwer, dass wir nach 8 Uhr abends nicht ohne einen besonderen Grund auf die Straße können. Wie konnte er diese Last tragen?

- Für Mindszenty waren die Kirche und die Heimat unzweifelhafte Autoritäten und er ordnete seine Person diesen Werten unter. In 1971, als er Ungarn verlassen hat und sich in Wien, im Pazmanianum niedergelassen hat, hob er in der Homilie der Messe am Heiligabend den Frieden und die Liebe der Heiligen Familie hervor und verglich wieder das Schicksal der verfolgten, heimatlosen Menschen mit dem von Jesus. Christus, der Verfolgte, der die Welt erlöst. Mindszenty hatte Mitgefühl mit den in die Emigration gezwungenen Ungarn, die in 1945 und auch in 1956 in großer Zahl Ungarn verlassen haben.

Ein Tropfen Menschlichkeit: Weihnachten an der Front

- Sie haben erwähnt, dass die Pfeilkreuzler selbst an Weihnachten 1944 ihre Gefangenen hingerichtet haben. Wohin ist die Menschlichkeit aus den Menschen verschwunden? Es ist für viele bekannt, dass an Weihnachten 1914 die ansonsten einander gegenseitig tötenden deutschen und britischen Soldaten am Heiligabend aus den Schützengraben herausgekommen sind, sie sangen, spielten Fußball und tauschten Zigaretten. Warum konnte sich dies nicht an den nächsten Weihnachten wiederholen, dass die Waffen zumindest dann still gewesen wären?

- Seit Kain und Abel existiert Krieg in der Menschheit, diese biblische Geschichte zeigt, dass dem auch die Blutsbande kein Hindernis stellen können. Der Krieg bringt den Menschen außer sich. Denken wir nicht, dass zum Beispiel im II. Weltkrieg nur die deutschen oder russischen Soldaten hinterlistige Gewalttaten anderen gegenüber verrichtet haben – auch in der ungarischen Armee und in anderen gab es solche, die ähnliche Dinge getan haben, wie die Soldaten der fremden Armeen: Plünderung, Grausamkeit, Vergewaltigung. In einer Kriegssituation wird jeder grundlegende menschliche Wert in den Hintergrund gedrückt. Die an der Front werden lethargisch. Der Soldat lebte so, dass an einem Tag der eine, am nächsten der andere Kampfgefährte neben ihm erschossen wurde. Zu Recht stellte er sich die Frage: Wann komme ich dran? Wenn man sich auf das Ende vorbereitet, rechnet man mit sich selbst ab, was in seinem Leben noch unerledigt geblieben ist.

Das kann eine Art Wut generieren. Im ersten Weltkrieg hat man denjenigen, die an die Front zogen, versprochen, dass es ein kurzer Krieg werden würde; bis die Blätter von den Bäumen fallen, könnten sie nach Hause. Dabei dauerte die Metzelei vier Jahre lang. Denken wir nur daran, bei welchen Namen wir die einzelnen Schlachten und Ereignisse des Krieges nennen: „die zwölf Schlachten am Isonzo“ oder die „Blutpumpe von Verdun“ haben das Leben von Tausenden von jungen Männern für unnütze Ziele ausgelöscht. An Weihnachten 1914 jedoch wirkte noch in den gegeneinander Kämpfenden, vor allem in den einfachen Menschen die Erkenntnis, dass sein Gegenüber mit dem Bajonett in der Hand ein genauso einfacher Mensch ist, wie er selbst. Einer, der sein kleines Haus, kleines Land, kleine Frau, sein kleines Leben hinter sich gelassen hat. Dies, dass sich ihr eigenes Leben im Feind widerspiegelte, stand vielleicht im Hintergrund des Waffenstillstands und Frontweihnachten von 1914.

Der Meistertrick von Kádár

- Die kommunistischen Staatsparteien machten einen Versuch, das Fest von Weihnachten seiner Herkunft, der Feier der Geburt des Erlösers zu berauben. Haben sie sich nicht getraut, es abzuschaffen?

- Albanien hat sich als erstes Land der Welt in 1967 atheistisch erklärt, nachdem die kommunistische Staatsmacht die Bürger, die ihre Religion ausübten, ab 1944 systematisch verfolgt hatte, dann auch die Kirchen auflösen lassen hatte. In der Sowjetunion gab es ab der Machtübernahme 1917 ähnliche Bestrebungen, aber sie haben ihr Ziel nicht erreicht, nach dem politischen Wandel in Russland kehrte die Religion sehr schnell ins Leben der Menschen
zurück. Sie haben zwar Kirchen geschlossen, dennoch konnten sie den Glauben nicht ausmerzen. In Ungarn können wir ab 1948 mit dem Ausbau der Diktatur rechnen. Bei der letzten Volkszählung damals, wo auch die Religionszugehörigkeit der Menschen erfasst wurde, hat sich zwei Drittel der Bevölkerung als einer christlichen Konfession angehörig angegeben. Das lässt sich nicht innerhalb von 40 Jahren abschaffen.

- Welche Schritte sind in unserem Land unternommen worden, um den sakralen Charakter von Weihnachten auszulöschen?

- Die sanfte Diktatur von Kádár schadete dem Glaubensleben, der Kirche, dem Glauben der Menschen mehr als das Rákosi-System. Je größer die Unterdrückung, umso größer der Widerstand, der Trotz. Als die Menschen das Gefühl hatten, dass sie durch das System als Feinde behandelt werden, sahen auch sie einen Feind darin und das Gefühl hat sich in ihnen verstärkt: Ich muss in meinem Glauben beharren. Dies hat János Kádár erkannt; wenn jemand die Rahmen des Systems nicht kritisierte und keine hohe Funktion in der Partei innehatte, blickte er darüber hinweg, wenn diese Person zur Kirche ging, oder ihre Kinder ins Dorf der Großeltern zur Firmung brachte. Haben die Menschen ihren Mund gehalten, konnten sie gedeihen, sie konnten ein Wochenendgrundstück kaufen, oder ein Ferienhaus bauen. So wollte das Kádár-System die Bindung der Menschen zum Glauben auflockern, machte Zugeständnisse, zur gleichen Zeit wollte es ihre Aufmerksamkeit in die Richtung des Konsums, des Erwerbs von Gütern lenken, und bot Programmmöglichkeiten, wo sie die Erlebnisse des gemeinschaftlichen Daseins in Massen erleben konnten: zum Beispiel an Sportveranstaltungen.

- In wie fern hat 1956 Kádár dieser Erkenntnis nähergebracht?

- Von 1945 vergehen 11 Jahre bis 1956, das sind lediglich zwei Wahlzyklen. Die Gesellschaft war grundsätzlich eine bürgerliche, bäuerliche Gesellschaft, in der die Massen so sozialisiert wurden, dass ein erheblicher Teil von ihnen ihren Glauben tief erlebte. Sie erachteten die Diktatur im Ausbau nach dem zweiten Weltkrieg, als etwas, was nicht für immer anhalten konnte. Sie spürten, diejenigen, die so dachten, waren zahlreicher, als die Unterdrücker. 1956 war eine riesige Ohrfeige für sie, sie mussten hinnehmen, dass sie sich aufstellten, und mit Steinen und Molotowcocktails und Handwaffen die Tanker, die Verkünder von fremden Ideologien besiegt haben, und dachten die Welt wäre solidarisch mit ihnen und ihrem Kampf – aber, wie es sich herausstellte, stimmte das nicht. Das Land ist im Joch geblieben. 1956 war ein riesiger Bruch in der Seele der Menschen.

In der Seele derer, die hierzulande geblieben sind, aber auch bei denen, die ausgewandert sind. Mit einem Koffer, ohne Sprachkenntnisse in ein fremdes Land zu ziehen ist ein großes Abenteuer, aber genauso war es, zuhause zu bleiben. Die Kirche und auch die Zivilgesellschaft haben ihre eigenen Kompromisse gemacht. Kádár hatte das genial erkannt.

- Was haben sie davon als Kind mitbekommen?

- In meiner Kindheit, als ich zehn Jahre alt war, das war in 1977, war es für mich schon selbstverständlich, dass wir in die Kirche gingen. Ich kann mich daran erinnern, ich war in der fünften Klasse, als wir am Samstag zur Pionierweihe gingen, am Sonntag fand meine Firmung statt. Davor hat uns die Lehrerin in der Klasse aufgestellt, und gefragt, wer konfirmieren würde. In der Klasse von 27 sind wir zu 11 stolz aufgestanden, ich selbst habe eine Art Lob erwartet, stattdessen hat die Lehrerin angefangen, davon zu erzählen, dass wir diejenigen sind, die wir am Tag nach der Bindung der roten Krawatte uns in der Kirche mit allen Arten von Öl beschmieren lassen. Als Kind habe ich das gehörte mit Unverständnis genommen, weil es für mich nicht unvereinbar war, dass der Pionier hilft wo er kann, und dass dies auch für mich als Katholik gilt. Als wir dastanden, dachte ich daran, dass wir trotzdem mehr sind, dass wir mit dem Glauben unserem Leben etwas hinzugefügt haben, damit dieses vollständiger ist. Und das wurde es auch…

Quelle: gondola