
„Es sollen uns nicht allein unsere Sehnsüchte sagen, was für uns gut ist”

„Die in Nizza in der Kirche getöteten Katholiken können wir zu Recht als Märtyrer betrachten, sie wurden nämlich mit Absicht, aus Hass gegen den Glauben ermordet.“ Das hat Péter Erdő in seiner Homilie am Allerseelentag gesagt, während zur selben Zeit in Wien ein Bewaffneter herumlief und wahllos auf unschuldige Spaziergänger schoss. Der Kardinal-Erzbischof war nach diesen Ereignissen zu Gast im Podcast des Internationalen Eucharistischen Kongresses, wo er sich auch dazu äußerte, warum es wichtig ist, mit der Wut wegen des Todes der Unschuldigen umzugehen.
Die Wut ist ein schlechter Ratgeber
„Es ist verständlich, dass einen im Angesicht der unschuldigen Opfer die Wut ergreift. Die Wut ist, obwohl sie eine der Kardinalsünden ist, keine Sünde an sich, sondern eine Einstellung, an der sich Sünden entfachen. Aus Hass kann Gewalt, Mord, Rache und vieles andere entstehen, womit wir uns nicht identifizieren können“, sagte Péter Erdő in Bezug darauf, dass wieder unschuldige Menschen zum Opfer eines Terroranschlags geworden sind. Der Kardinal erinnerte daran, dass die christliche Liebe uns jedoch gegenüber allen verpflichtet. Er fügte hinzu: „Die Lehre von Jesus über die Feindesliebe zeigt uns, dass wir, selbst wenn wir uns verteidigen, eine Art Maß bewahren müssen. Davon handelt die uralte Lehre der Kirche über die berechtigte Selbstverteidigung.“

Die berechtigte Selbstverteidigung ist eine Möglichkeit, manchmal eine Verpflichtung
Péter Erdő sagte, dass die traditionelle Moraltheologie die Werte aufzählt: das Leben, die Gesundheit, die lebenswichtigen Güter, die angegriffen werden können, wobei wir jedoch berechtigt sind, diese Angriffe sogar mit Kraft abzuwehren. Man kann sich natürlich die Frage stellen, was genau lebenswichtige Güter sind. Am Beispiel seines ehemaligen Lehrers vom Piaristengymnasium erläuterte der Oberhirte den Zuhörern, dass im Winter der Wintermantel als ein solches angesehen werden kann. Im Jahr 1945 sind Kampftruppen durch die Straßen gezogen, haben das Maschinengewehr auf Menschen gerichtet und diese so ausgezogen, und wer nicht aufgepasst hat, erfror. Péter Erdő fügte hinzu: „Bei einem Terroranschlag ist das Leben in Gefahr. Die berechtigte Selbstverteidigung ist eine Möglichkeit, für manche Menschen sogar eine Verpflichtung.“
Selbstmäßigung und Verantwortung
Der Oberhirte hob das Beispiel von Johannes dem Täufer aus dem Evangelium zum Thema der Verteidigung hervor, der vor dem Auftritt von Jesus Buße angekündigt hatte. Menschen aller Herkunft folgten seinem Ruf, darunter auch Soldaten, die ihn fragten, was sie tun sollten. Sie haben nicht die Antwort bekommen: „Werft die Waffen weg!“ Stattdessen bat sie Johannes der Täufer darum – so der Kardinal –, dass sie sich mit ihrem Sold zufriedengeben und die schutzlose Bevölkerung nicht ausplündern sollten. Sie sollen ihren bewaffneten Dienst erfüllen, den Schutz der Gemeinschaft, mit Verantwortung und Selbstmäßigung.

Kleine Wunder
Jemand kümmert sich um uns! So reagierte Péter Erdő auf die Idee, dass die Pandemie trotz der vielen Schwierigkeiten auch gute Dinge an die Oberfläche gebracht hat. Der Kardinal hat die Geschichte erzählt, die er als ein kleines Wunder erlebt hat. Er hat eine Nachricht von einem Pater bekommen, der in schlechtem Zustand im Krankenhaus lag und um einen Priester gebeten hatte. In solchen Fällen tritt der Oberhirte mit dem Krankenhauspastorat in Kontakt, damit dieses den Dienst organisiert. Selbst wenn sich einer der Priester freiwillig meldet, ist das Risiko groß, dass er erkranken und die Infektion an andere weitergeben könnte. Nachdem der Kardinal den Zuständigen angerufen hatte, hat sich herausgestellt, dass ein junger Pater, der die Krankheit schon hinter sich hatte, angeboten hat, diejenigen zu besuchen, die mit dem Coronavirus kämpfen und einen Priester möchten.
Priester und das Internet
Die erste Welle der Pandemie im Frühling hat auch die heiligen Messen in den Online-Raum verlegt. Péter Erdő selbst hat in der Quarantäne sehr viele Videos gemacht. Diese Lösung ist aus Zwang geboren, sagte er auf die Frage, wie er es erlebt hat, mit den Gläubigen auf einer anderen Plattform Kontakt zu halten. Die sozialen Medien sind eine Möglichkeit und Versuchung zugleich, so der Oberhirte. Er fügte hinzu, dass einige dies als eine Produktion betrachten und persönlich Erfolg erzielen wollten, statt den Akzent auf die sakrale Handlung zu legen, aber ihm seien auch gute Beispiele begegnet, auf die ihn die Seelenführer aufmerksam gemacht haben. Der Kardinal legt großen Wert darauf, dass Materialien von Qualität online erscheinen, und mit der Hilfe eines Experten wird Priestern eine Schulung organisiert, damit sie lernen, wie die sozialen Medien zur Vermittlung von liturgischen Inhalten am besten verwendet werden können. Früher nannte er die Stärkung der Internetpräsenz eine sehr wichtige Aufgabe, er selbst jedoch zieht sich, wenn er Erholung sucht, statt ins Internet zwischen seine alten Bücher zurück.

Pandemie einst und heute
Péter Erdő gehört zu der Generation, deren Mitglieder schon als Kind einer Pandemie gegenüberstehen mussten. „Eines ist den damaligen und jetzigen Ereignissen gemeinsam: dass im Radio angesagt wurde, wohin man nicht gehen darf.“ Während der Schulferien traf dies die Kinder unangenehm, weil sie gerade dorthin nicht durften, wohin sie aber gerne gehen wollten – zum Strand und ins Kino. Die damalige Quarantäne verbrachte Péter Erdő im Garten seiner Großmutter. Der Kardinal erinnerte sich daran, dass sie das Erlebnis lange Zeit mit sich trugen, das sie damals verspürten, als sie von Nachbarn und Verwandten darüber gehört haben, dass die erkrankten Kinder ihr ganzes Leben lang mit Behinderung weiterleben mussten. Er hat auch daran eine rege Erinnerung, als in der Schule angekündigt wurde, dass der Kinderlähmung mit den Sabin-Tropfen vorgebeugt werden kann. Auf die Frage, ob er manchmal Angst hatte, antwortete der Oberhirte, dass er die Möbel und Kleidungsstücke im dunklen Zimmer oft für Wesen, seltsame Tiere gehalten habe. „Wenn der Mensch nicht versteht, was er erfährt, erschrickt er oft davor.“ Für ein größeres Problem als die Angst hält er das große Misstrauen, das sich im letzten Jahrzehnt in den Menschen entwickelt hat, hauptsächlich gegenüber der Massenkommunikation, wegen der Falschnachrichten und der widersprüchlichen Informationen.
Liebe: Den wahren Vorteil des Menschen suchen
In der Diskussion ging er auch darauf ein, wie einige Ausdrücke im alltäglichen Gebrauch ausgehöhlt und abgenutzt wurden, die für die christlichen Gemeinschaften viel bedeuten. Von diesen hob Péter Erdő die Liebe hervor, die ein zentraler Begriff ist. Als Beispiel nannte er, dass den Alkoholiker und Drogenabhängigen nicht derjenige am meisten liebt, der ihm alle Wünsche erfüllt, während er sieht, dass er sich damit selbst zerstört. Der Oberhirte betonte, „es sollten uns nicht allein unsere Sehnsüchte sagen, was für uns gut ist“. Gott hat den Menschen und die Welt geschaffen, die ihre Regelmäßigkeiten hat, welche zeigen, was zum Vorteil des Menschen ist und was ihn vernichtet. Den wahren Vorteil des Menschen zu wollen, das ist die Liebe.
Quelle: IEK
Photo: Marcsi Ambrus